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Gulatschn

Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es in Böhmen zu einer Vertreibung deutscher Bevölkerung. Diese wurde im Rahmen der "Prager Deklaration" angeordnet, die von der tschechoslowakischen Regierung im Juni 1945 verabschiedet wurde. Unter den 2,5 Millionen Vertriebenen befand sich auch mein Grossvater. Mit sich brachte er nur wenige Klamotten und ein ganz besonderes Rezept.

Früher feierten wir große Familienfeste. Sippenfeste fast. Oder sollte man sagen: Gulatschnfeste? Denn im Mittelpunkt eines Gewimmels von Böhmerwäldlern, die jeden herzten und küssten, fidel waren, aber jedes Mal in Tränen ausbrachen, wenn die ferne Moldau erwähnt wurde, türmte sich immer ein Berg von Gulatschn.

Immer wenn im Leben Jesu etwas Besonderes passiert war, Auferstehung, Kreuzigung, Geburt, sowas, gab’s Oster-, Karfreitags-, oder Weihnachtsgulatschn. Immer wenn im Leben eines Böhmerwäldlers etwas Besonderes passiert war, Tod, Hochzeit, Erstkommunion, sowas, gab‘s Feier- oder Trauergulatschn. Der Gleichklang der Sätze ist absichtlich gewählt und soll den liturgischen Charakter des Gulatschn unterstreichen.

Wie musste ein Gulatschn sein? Erstens quadratisch. Es wurde ein Teigquadrat von etwa einer Elle Seitenlänge ausgerollt, und mit Quark bestrichen. Dann wurden alle vier Ecken eingeschlagen, so dass wieder ein Quadrat entstand, jetzt von der Größe einer Handspanne. Fürs Buffet wurde jeder Gulatschn in Viertelgulatschn zerschnitten.

Zweitens praktisch: Diese Form ermöglichte es, Gulatschn flächendeckend auf Servierbrettern anzuordnen und bis zur Höhe von fünf Etagen zu stapeln. Die Viertelgulatschn ergaben mundgerechte Stücke, jedes mit Teigecke als Griff und Quarkecke zum Abbeißen. Kein Wunder, dass Gulatschn beliebt waren, mussten sie schließlich, drittens, auch gut schmecken. Dies wurde durch Rosinen und Streusel garantiert. Soweit die Tradition. Sowenig die Böhmerwäldler die runde Form der Hostien hinterfragten, zweifelten sie die quadratische Form der Gulatschn an.

Der ist übrigens schnell erzählt: Es begann mit Schwierigkeiten bei der Nachfolgeregelung. Durch ungeschriebene Gesetze, auch unausgesprochene, sogar unbewusste und nie hinterfragte, war geregelt, wer die Wandlung von Mehl, Zucker und Quark zum Gulatschn vollziehen durfte. Einst war meine Urgroßmutter die einzige Bevollmächtigte. Meine Großmutter, obwohl exzellente Bäckerin, fühlte sich nicht befugt. Sie war nur angeheiratete Böhmerwäldlerin und außerdem eine Stadtmadam.

Aber auch mein Vater kam nicht in Betracht. Immer wenn er etwas kochte, wurde ihm bescheinigt, dass alles schön aussah, aber nichts schmeckte. Deshalb wurde ihm schon früh die Rolle als Prälat schmackhaft gemacht. Prälat? Nicht verwechseln mit Proletariat! Prälat ist ein katholischer Würdenträger. Statt für die Zubereitung der Gulatschn wäre er für die Wandlung der Hostien zuständig gewesen. Geschmack hätte da keine Rolle gespielt. Als dagegen mein verwegener Onkel Rafi die ersten Gulatschn präsentierte, wurden sie überraschend positiv aufgenommen. Der nächste folgenschwere Fehler! Eigentlich hatte Rafi auf ausgedehnten Reisen viel mehr Interesse für Indien gezeigt, als für den Böhmerwald. Aber er war praktisch veranlagt, das zählte. Während mein Dad in den Kreis der Hostie verwiesen wurde, traute man meinem Onkel die Quadratur des Gulatschn zu. Mit katastrophalen Folgen! Zu Rafis Verteidigung: Er wollte seine Gulatschn gar nicht anbieten. Er versteckte sie geradezu, in einem hinteren Winkel der Speisekammer. Meine Großeltern witterten sie aber, weil sie so köstlich dufteten. Sie verströmten ein schwer süßliches Aroma. Sahen auch etwas ungewohnt aus: über und über grün. Selbst das war meinen Großeltern keine Wahrnung. Beide bissen sie in ihr Quadrat. „Guade Gulatschn!“, seufzten sie geradezu. Für die Menge Cannabis, die sie dabei unwissentlich reinzogen, hätten sie mindestens vierzehn Tage Sozialstunden ableisten müssen.

Und wie waren sie drauf? Meinen Großvater kann ich nicht fragen, er lebt nicht mehr. Meiner Großmutter gegenüber darf ich die Frage nicht einmal anrühren. Aber vielleicht ist der Schurke selbst bereit für seine Taten einzustehen. Da er sich gerade nicht in Indien, Bali oder Lateinamerika herumtreibt, treffe ich ihn in einem Münchner Kaffee. Inzwischen ist er ungefähr so alt ist wie meine Großeltern damals, kann den Effekt des Gulatschn auf seine Mutti und seinen Vädi also authentisch schildern: Er erhebt sich vom Café-Hocker. „Mir ist so …, mir ist so …“, beginnt er den Vädi nachzuspielen. „So, so zweierlei“ Dabei schnauft er tief, und schwenkt die Arme wie Elefantenrüssel. „Ich hab an Krampf! Ich hab an Krampf!“, hat dagegen die Mutti gerufen und ist dabei in heftiges Gekicher ausgebrochen. „Dabei ist sie den Gang entlang gehüpft, auf einem Bein“, Rafi führt es vor, „und immer mehr ins Kichern geraten!“. „Danke, danke!“, sag ich. Ich kann mir inzwischen ein ganz gutes Bild von dem Ereignis machen. Die anderen Kaffeegäste ebenso. Mein Großvater, ein sonst selbstsicherer Macher, gerät ins Zwielicht. Seine würdevolle Frau mutiert zur Ulknudel.

Damit war der Tiefpunkt des Böhmerwäldlertums erreicht. Inzwischen ist nicht mehr viel davon übrig. Die dritte Generation, assimiliert, heiratet mit Kirschtorte. Auch ich habe meine Mühe mit dem Böhmischen: „Boemerwaeldler“ tippe ich ein, weil meine britische Tastatur keine Umlaute bietet. Zurzeit halte ich mich in Glasgow auf. Gibt’s hier was Vergleichbares zum Gulatschn? Deep fried Mars-Bars gelten als Delikatesse. Also die Schokoriegel aus dem Supermarkt in heißem Fett frittiert. Dagegen Gulatschn. Rosinen. Streußel. Seit meiner Kindheit habe ich keinen mehr zwischen die Zähne bekommen. „Gulatschn“, schon das Wort. Mir wird auf einmal so bömerwäldlerisch. Zucker her! Mehl! Ich werde den Gulatschen updaten! In veganer Version! Trau ich mir zu. Bin praktisch veranlagt.

 

Rezept:

Zutaten:

Für den Teig:

  • 1 Packung Hefe

  • 3/4 Tasse Hafermilch

  • ½ Tasse Zucker

  • ⅓ Tasse Magarine

  • 1 tsp Salz

  • 2 tbsp Leinsamenmehl mit 5 tbsp Wasser verrührt

  • 4 Tassen Mehl

Für die Füllung:

  • 500g Veganer Quark (alternative: Veganer Jughurt mit 2 tbsp Speisestärke)

  • 2 Packungen Vanillezucker

  • Marillen Marmelade

  • Rosinen

Für die Streussel:

  • 1 1/2 Tassen Mehl

  • 1/2 Tasse Zucker

  • 1/2 Tasse kalte vegane Margarine

Zubereitung:

Teig:

  • Die Hefe in der warmen Milch zergehen lassen

  • Zucker, Magarine, Salz, und Leinsamen Mischung hinein mischen

  • Mehl hinzufügen und mindestens 5 Minuten lang gut einarbeiten

  • Teig abdecken und 1-2 Stunden gehen lassen

  • Teig noch einmal gut durchkneten. Falle er an der Arbeitsfläche festklebt, diese mit Mehl bestäuben und mehr Mehl in den Teig einarbeiten

  • Teig in ein ca 1cm dickes Rechteck ausrollen, und dann in Quadrate mit Seitenlänge von ca 15cm zurechtschneiden

  • Veganen Quark mit Vanillezucker mischen

  • Jedes Rechteck mit 5 tbsp Quark, dann 1 tbsp Marmelade und Rosinen nach belieben füllen

  • Die Ecken der Rechtecke in die mitte klappen, so dass erneut ein Rechteck entsteht.

  • Streussel Zutaten zusammen mischen

  • Gefüllte Teig Rechtecke bestreusseln

  • in den Ofen bei 180 Grad für ca 30 Minuten

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