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Das hungrige Meer

Ali erzählt die Geschichte seiner eigenen Überfahrt von der Türkei nach Griechenland in einem Schlauchboot. Dieses Erlebnis steht exemplarisch für das Drama, welches sich seit Jahren auf dem Mittelmeer abspielt und schon zahlreiche Menschenleben gekostet hat.

Samstag 04.10.2014 Ich saß bei Sonnenaufgang auf einem kleinen Berg in der türkischen Stadt Izmir/Ceşme nahe der Küste von Elif Koyo. Es war ein besonderer Tag. Es war das muslimische Opferfest. Damals war ich 14 Jahre alt, fühlte mich aber wie 30 Jahre alt. Ich werde diesen Morgen nie vergessen. Der Sonnenaufgang war irgendwie sehr schön und beruhigend aber auch kraftvoll und beängstigend. Ich war dort mit 25 anderen Leuten, die alle zwischen Büschen schliefen. Ältere Menschen, Kinder und Frauen. Der Plan war, dass wir alle in der Nacht zum 5. Oktober 2014 mit einem schwarzen Schlauchboot und einem Yamaha-Motor die Grenze zwischen der Türkei und Griechenland überqueren.
Die Sonne ging langsam auf und ich spürte die Wärme auf meiner Haut und das glanzvolle Meer blendete meine Augen.
Der Gedanke, dass dies der letzte Sonnenaufgang sein könnte, den ich sehen werde, beunruhigte mich.
Ich war so verloren im Gedanken und plötzlich hörte ich Schritte zwischen den Büschen und stand sofort erschrocken auf. Ich griff nach meinem Messer und fragte mit einer zittrigen Stimme: Hey, wer ist da (auf Türkisch). Plötzlich sagte er: „hey Ali ich bin’s Hossein, bitte nicht erschrecken. Unser Kapitän ist da. Komm du musst ihn dir ansehen und glaube es mir du wirst überrascht sein.“
Ich antwortete dann: „Salam Bruder, ich wollte den Sonnenaufgang beobachten. Lass uns ihn ansehen und dann Fleisch sammeln gehen denn heute ist Opferfest und ein letztes Barbecue in der Türkei darf nicht fehlen.“

Wir gingen und als ich unseren Kapitän sah, fehlten mir die Worte. Er war gerade vielleicht 15 Jahre alt und er sollte 27 Personen mit einem Schlauchboot über die Grenze fahren. Er hieß Mohammad und hatte ein sehr starkes Selbstbewusstsein. Man konnte ihn sofort Vertrauen schenken aber eines fiel mir auf, er konnte sich auch sehr gut verkaufen. Er war sehr gut informiert und hatte für jede Frage eine Antwort. Naja der arme kleine Junge wurde gut trainiert. Er war kein Einzelfall denn die Schlepper setzten Kinder oft für sowas ein. Alle waren mit der Situation unzufrieden aber alle wussten, dass er genauso verarscht wurde wie wir. Die Schlepper haben ihn kostenlos mitfahren lassen aber dafür musste er das Boot steuern. Ein Verbrechen oder besser gesagt ein Missbrauch.

Nach viele Diskussionen gingen wir zu viert von Tür zu Tür und kamen mit viel Fleisch zurück. Unterwegs kauften wir Spieße und Salz. Ich sagte zu Hossein: „Bruder finde zwei Steine ​​und etwas Holz. Wir bauen einen Naturgrill auf.“ Es war Mittag und sehr heiß. Langsam kamen die ersten Strandbesucher zum Schwimmen. Wir feuerten den Grill an und es gab große Rauchwolken, aber das war mir egal. Wir gingen sogar später zum Strand und schwammen. Ich wollte mein Glück versuchen, ob wir bemerkt werden und die Polizei kommt. Ich wusste aber auch, dass Feiertag ist und nicht viele Polizisten unterwegs sein würden.
Die Sonne ging langsam wieder unter, die Angst in mir wuchs weiter und die Nacht kehrte zurück. Um genau 23:00 Uhr fingen wir an das Schlauchboot aufzublasen und den Motor anzuschließen. Um 00:00 gingen die Strandlaternen aus und es war die perfekte Zeit für uns. Um 00:15 Uhr wurde das Boot ins Wasser gelassen und wir starteten. Unsere Strecke zum griechischen Ufer war weit. Die schweren Passagiere saßen vorne, die Leichten hinten und die Frauen und Kinder möglichst in der Mitte. Ich war mit dem Meer sehr vertraut und wusste, wie ich mich auf dem Wasser zu verhalten hatte. Ich habe davor als Fischer gearbeitet oder besser gesagt auf einem Boot ausgeholfen und darum setzte mich jetzt direkt neben Mohammad, den Kapitän. Alle außer mir saßen mit einer Schwimmweste im Boot. Ich konnte sie mir nicht leisten, aber ich vertraute meinen Schwimmkünsten. Alle Augen waren auf unseren kleinen Kapitän gerichtet und sie waren voller Hoffnung und Angst. Ich hatte plötzlich weiche Knie und verdammte Angst. Er startete den Motor und fuhr los.


Nach ein paar Metern bemerke ich, dass wir sehr schwer sind und Wasser in das Boot fließt. Ich sage zu Mohammad: „halte das Boot an, wir müssen zurück, es ist sehr gefährlich. Wir sind zu schwer und es kann böse enden.“ Plötzlich gibt es eine sehr große Diskussion, die Mehrheit wollen es riskieren und weiterfahren und einige wenige wollen es nicht. Plötzlich sagt Mohammad: „Ich werde keine Verantwortung übernehmen und ich fahre jetzt mit dem Boot zurück ans Ufer.“ In diesem Moment zieht ein junger Afghane namens Reza ein Messer und sagt ihm: “entweder du fährst weiter oder ich bringe dich um und steuere das Boot selbst.“ Mohammad startet den Motor neu und fährt plötzlich los.
Ich sage: „Schneidet zwei Wasserflaschen in der Mitte durch und jeder schnappt sich eine Hälfte und versucht das Wasser aus dem Boot zu schöpfen.“
Später erzählte Mohammad mir: „Ich wollte gerade ins Wasser springen und einfach zurückschwimmen, aber ich konnte nicht einen verrückten Mann das Boot voll mit Frauen und Kindern steuern lassen. Also beschloss ich zu fahren.“
Wir fahren weiter und nähern uns dem Ziel. Die Nacht ist ruhig, der Himmel sternenklar und eine unheimliche Stimmung ist an Bord. Plötzlich bemerkt eine Frau, dass unser Boot Luft verliert und sie hat verdammt recht. Das Boot hält dem Druck und dem Salzwasser nicht stand. Das Boot sinkt langsam ab und nur wenige hundert Meter vor der Ziellinie ist kein Boot mehr da. Ich höre nur die Schreie um Hilfe. Ich schreie laut: „spart Kraft und schwimmt hinter mir her. Versucht ruhig zu atmen und nicht die Orientierung zu verlieren. Achtet auf die Älteren und Kinder.“ Ich fange an zu schwimmen und kämpfe mit mir, nicht hinter mir zu schauen. Ich will niemanden sterben sehen.
Ich will nur überleben. Ich schwimme wie ein Profisportler. Plötzlich habe ich eine magische Kraft. Ich fühle nichts, keine Kälte, kein Salz und keinen Schmerz. Ich sehe nur das blinkende Licht und schwimme weiter.

Ich höre nichts mehr. Wie ein Roboter, der nur schwimmen kann und sonst zu nichts fähig ist.

Nach ein paar hundert Metern Schwimmen, so kommt es mir zumindest vor, erreiche ich die Ag. Minas, Chios Griechenland. Ich komme aus dem Wasser raus und setzte mich auf einen Felsen. Ich kann nichts mehr tun und plötzlich habe ich einen Black-out.

Ich habe nicht einmal den Sonnenaufgang bemerkt. Auf einmal spürte ich eine zitternde Hand auf meiner Schulter- es ist Mohammad und er sagt: “Ali stehe auf mein Lieber wir haben es geschafft. “

Am 05.10.2014 erreichten Mohammad, 11 andere Menschen und ich die Küste und 14 weitere Menschen, darunter Frauen und Kinder, starben. Am schlimmsten war, dass eine Mutter ihre Weste öffnete und sich ertrinken ließ, als sie merkte, dass ihre kleine Tochter tot war. Das haben mir andere Überlebende erzählt.

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